Formatives Prüfen


Formatives Prüfen – was ist das und worin liegt der Mehrwert?

Im Gegensatz zu sog. summativen Prüfungen, die studentische Leistungen meist am Ende einer Lehrveranstaltung beurteilen, stellen formative Prüfungen eine prozessbegleitende und individuelle Beurteilung von Leistungen dar (Schütze et al. 2018: 2). Die Rückmeldungen hierzu werden von den Lernenden für den fortlaufenden Lernprozess genutzt und fördern reflektierendes, kompetenzorientiertes sowie prozessorientiertes Lernen, indem sie Studierenden und Lehrenden durch fortlaufende, regelmäßige Rückmeldung zum individuellen Lernprozess ermöglichen, den jeweiligen Fortschritt auf dem Weg zum intendierten Lernergebnis sichtbar zu machen.

Die Rückmeldung in Form von individuellem Feedback ist als wesentlicher und notwendiger Bestandteil von formativem Prüfen zu verstehen (Bundeszentrale für politische Bildung 2017, Flechsig 1976). Mit Hilfe dieses Feedbacks, beziehungsweise der Reflexion dessen, kann die lernende Person ihren Lernfortschritt selbstständig vorantreiben (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Eine etablierte, konstruktive Rückmeldekultur ist eine der Voraussetzungen für erfolgreiches Feedback. Auf diese Art und Weise sind formatives Prüfen und Feedback eng miteinander verknüpft.

Rechtzeitiges sowie regelmäßiges Feedback am Anfang oder zumindest in den früheren Phasen einer Lehr-/Lerneinheit kann dabei helfen, dass Studierende mögliche Schwierigkeiten in ihrem Lernverhalten, beziehungsweise Lücken in ihrem Wissensstand, schnell erkennen, ihr Lernverhalten anpassen und versuchen können, die Lücken zu schließen. Formatives Prüfen liefert so diagnostische Informationen, um das Lernen zielgerichteter unterstützen und befördern zu können (Schütze et al. 2018: 2). Besonders gut gelingt dies, wenn mehrere Feedback-Einheiten während eines Semesters etabliert werden. Eine kontinuierliche Rückmeldung zum Stand des Lernens kann motivierend wirken und durch die erwähnte Identifikation von Wissenslücken das Selbststudium beeinflussen. Ferner wird die intrinsische Motivation an jenen Stellen gefördert, an welchen ein Bewusstsein über bereits erarbeitetes Wissen und bereits erworbene Fähigkeiten geschaffen wird (Michel et al. 2015: 15). Formative Prüfungsformen bieten somit einen deutlichen Vorteil gegenüber summativen Prüfungsformaten, die stets am Ende einer Lehr- beziehungsweise Veranstaltungseinheit erfolgen und somit keinen Raum für zu verbessernde studentische Leistungen lassen.

Empirische Untersuchungen weisen für formative Prüfungen in Relation zu anderen bisher untersuchten didaktischen Interventionen sehr große Effektstärken aus. Ferner wird in ihnen ein großes Potenzial zur Stimulierung des Lernzuwachses von Lernenden gesehen (Black & William 1998; Cizek 2010; Hattie 2009; Wylie et al. 2012).

Da formative Prüfungsformate Auskunft über Lernfortschritte geben und den gesamten oder zumindest (Teil-)Prozesse des Lernens begleiten, erfüllen sie in erster Linie die didaktische Funktion adäquater Rückmeldungen zum Lernstand. Der Einsatz von Noten spielt im Zusammenhang mit formativen Prüfungen so eine untergeordnete Rolle, wenngleich er auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist (Huber & Reinmann 2019: 212). Hierbei kann beim Einsatz und der Umsetzung formativer Prüfungsformate grundsätzlich abgewogen werden, in welchem Verhältnis beurteilende und unterstützende Elemente abgewechselt werden. Die Balance zwischen beidem kann sich als durchaus schwierig gestalten (Lehre Laden RUB).


Was unterscheidet formative von summative Prüfungen?

 

 

Formative Prüfungen

 

 

Summative Prüfungen

Zeitpunkt

Veranstaltungsbegleitend; mithilfe der erhaltenen Rückmeldungen können Lehr- und Lernprozesse verbessert werden.

 

Erfolgen am Ende einer Lehrveranstaltung.
Ziel

Lernförderliches Feedback zum Lernprozess für Studierende, Rückmeldung zum Lernstand der Studierenden für Dozierende.

 

Studentische Leistungen zusammenfassen, beurteilen und darauf aufbauend Noten vergeben.

 

Was genau wird gefördert?

Fördern die Fähigkeit der Selbsteinschätzung seitens der Studierenden und sogenanntes „Deep-Learning“ (vertiefende Rezeption der Lehrinhalte/Verstehen statt lediglich Reproduzieren).

Ebenso können Reflexionen des Lernprozesses gefördert werden.

 

Es kann ein Lernerfolg durch den systematischen Einsatz von Instrumenten formativen Prüfens (z.B. Self-Assessment) eintreten, der auch studentische Leistungen fördert (Gibbs 1999).

Fördern eher strategisches Lernverhalten und „Bulimielernen“.

Hierbei müssen jedoch auch die jeweiligen adressierten Taxonomiestufen berücksichtigt werden (Reine Wissensabfragen begünstigen „Bulimielernen“; höhere Taxonomiestufen hingegen weniger).

 


Unter welchen Voraussetzungen kann formatives Prüfen gelingen?

Ohne zielgerichtetes Feedback und eine etablierte, konstruktive Feedbackkultur innerhalb der Lehrveranstaltung kann formatives Prüfen nicht funktionieren. Es ist als systematischer Prozess zu verstehen, der, richtig angewandt, auf konstruktive Weise den Lernprozess seitens der Studierenden beeinflusst und zu besseren Lernergebnissen führt (Lipnevich & Smith, 2009). Lernen können die Studierenden aus umfangreichem Feedback seitens der Lehrenden (oder der peers) dann, wenn sie sich inhaltlich an den vorab zu kommunizierenden Feedback-Kriterien orientieren, sie umsetzen und die Rückmeldung für den weiteren Lernprozess nutzen. (Lehre Laden RUB: 5). Damit dies gelingt, muss Feedback einige Kriterien erfüllen: Es muss…

  • konkrete Beobachtungen enthalten,
  • einen angemessenen Umfang haben,
  • zu einem passenden Zeitpunkt gegeben werden,
  • zeitnah ausgewertet werden,
  • erkennbare Hinweise zur Weiterarbeit bzw. Veränderungen des Lernsettings enthalten und
  • klar sein, wer wem mit welcher Absicht Feedback gibt.

 


Was leistet Feedback in der Lehre?

Feedback ist die „bewusste Rückmeldung von Informationen an eine Person zu ihren vorherigen Verhaltensergebnissen – nach der Bearbeitung einer Lernaufgabe – mit dem Ziel, eine korrekte Lösung dieser Aufgabe in der aktuellen oder auch in künftigen Lernsituationen zu ermöglichen“ (vgl. Müller & Ditton 2014: 16f.; Narciss 2006: 18).

Feedback kann mehrere Funktionen haben. Erstens eine Lern- und Informationsfunktion: Es informiert Studierende darüber, wo genau im Lernprozess sie stehen, welche „Strecke“ auf dem Weg zum Erreichen des Lernziels sie bereits zurückgelegt haben, wie viel noch vor ihnen liegt und wie sie dieses Ziel erreichen können.

Zweitens hat Feedback eine Motivationsfunktion. Ausgehend von der Selbstbestimmungstheorie der Motivation nach Deci und Ryan (1993) entsteht intrinsische Motivation durch die Befriedigung dreier psychologischer Grundbedürfnisse: erstens das Autonomiebedürfnis, was bedeutet, dass Individuen nicht gern von außen reguliert werden möchten. Sie sind motivierter, Dinge zu tun, wenn sie sie freiwillig tun. Autonomie heißt hierbei nicht, von äußeren Bedingungen komplett frei zu sein, sondern sie sinnvoll zu finden, ihren Nutzen zu verstehen und sie frei von äußeren Zwängen wahrzunehmen. Durch Feedback verstehen Studierende die Relevanz bestimmter Schritte für den eigenen Lernprozess und das eigene Erreichen eines Lernziels – sie sind motivierter, Aufgaben oder Veränderungsvorschläge hinsichtlich Lernstrategien o.ä., die im Feedback genannt werden, umzusetzen. Zweitens gibt es das Bedürfnis nach Kompetenzempfinden. Menschen möchten Erfolg haben bzw. sich kompetent erleben, bei den Dingen, die sie tun. Permanentes Scheitern oder Unterforderung und Langeweile sind frustrierend und lassen die intrinsische Motivation, diese Dinge überhaupt zu tun, sinken. Hier hilft Feedback, die intrinsische Motivation aufrechtzuerhalten, indem es transparent macht, was Studierende bereits können und gelernt haben. Das dritte Bedürfnis ist das nach sozialer Eingebundenheit, was bedeutet, dass Individuen Teil eines sozialen Umfeldes sein möchten und es innerhalb dieses Umfeldes Individuen gibt, an die sie sich wenden können. Auch hier erhält konstruktives und zielgerichtetes Feedback die Motivation, indem sich über den individuellen Lernprozess ausgetauscht wird – man ist nicht anonym, es interessiert sich jemand für das eigene Vorankommen (vgl. Deci & Ryan 1993).

Die dritte Funktion ist die Veränderung des Selbstbildes. Durch die Rückmeldung von außen erfahren Studierende, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Dadurch kann ein Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung erfolgen, bei welchem Studierende von ihnen bislang unbekannten Verhaltensweisen oder Eigenschaften erfahren, die ihnen in ihrer Eigenwahrnehmung vielleicht sogar fehlen. In der Folge wird es ihnen möglich, sich selbst realistischer einzuschätzen (vgl. Johari-Fenster, Luft & Ingham 1955).

Didaktische Bedeutung von Feedback

Lernförderliches Feedback im Rahmen von formativen Prüfungen beantwortet drei Fragen:

  1. Wohin gehst du? (feed up): Hierbei werden die Ziele der Lehrveranstaltung thematisiert: Was sollen die Studierenden am Ende der Lehreinheit können und in welcher Verbindung stehen diese Ziele zu den Anforderungen/Aufgaben? Von großer Bedeutung sind Beurteilungskriterien, welche den Lernenden transparent machen, was genau von ihnen gefordert ist, um die Lernziele zu erreichen.
    Das Ziel des Lernprozesses muss der Lerngruppe und allen Lernenden klar sein und muss zudem sinnvoll, relevant und herausfordernd erscheinen (Hartung 2017: 207).

 

  1. Wie kommst du voran? (feed back): Diese Rückmeldung informiert die Studierenden über den aktuellen Stand ihrer Leistung.
    Auf dieser Ebene geht es unter Berücksichtigung der Erfolgskriterien für Feedback darum, allen Lernenden zu verdeutlichen, wo sie in Relation zum Lernziel (feed up) stehen (Hartung 2017: 207).

 

  1. Wohin gehst du danach? (feed forward): Hierbei geht es um die Zukunftsdimension anhand nächster Schritte über konkrete Verbesserungen und Anregungen zur Reflexion des eigenen Lernprozesses nachzudenken.
    Es gilt zu reflektieren, was die individuellen Lernenden brauchen, um in Richtung des Lernziels weiterzuarbeiten bzw. weiterzudenken.
    Dieser Punkt macht den Unterschied zum summativen Assessment aus und verdeutlicht, dass es schwierig ist, formatives Assessment mit einer Note zu kombinieren, da damit die Motivation zur Weiterarbeit sinkt.

 

Auf den Ebenen des feed back und feed forward besteht auch die Möglichkeit, die gesamte Lerngruppe zu aktivieren und beispielsweise über Peer-Feedback-Prozesse miteinzubeziehen. (Hartung 2017: 207).


Umsetzungsbeispiele für formatives Prüfen

Beispiel Umsetzung Tools Wie erfolgt Feedback
Abstimmungen via Audience-Response- Systemen (ARS) Fragen erstellen, um bspw. nach thematischen Einheiten den Lernstand der Studierenden zu erheben und etwaige Lücken zu erkennen. Die Abstimmung erfolgt über ein Smartphone, die dazugehörige Software läuft über den Browser.

ARS (z.B. Pingo, ARSNOVA, eine Übersicht über verschiedene ARS finden Sie hier) eignen sich sowohl für kleine als auch für große Gruppen. Die Abstimmungen können anonym erfolgen und decken verschiedene Fragetypen

(Single-Choice; Multiple-Choice, Text, Numerisch, …) ab.

Feedback kann direkt nach Einsicht in die Abstimmungsergebnisse durch die Dozierenden gegeben werden. Im Weiteren können schnelle Abstimmungen den Ausgangspunkt für z.B. Gruppendiskussionen oder eine Anpassung der Lehrinhalte bilden.
E-Übungen Übungen können dem jeweiligen Kurs zugehörig angelegt und bearbeitet werden. Die Übungsergebnisse können von den Mitgliedern einer Übung durch das Hochladen von Dateien oder das Verlinken auf Arbeitsergebnisse in Form eines Blogs oder eines Portfolios eingereicht werden.

z.B. ILIAS

 

https://www.elearning.uni-mainz.de/ilias/

 

In der Feedback-Spalte kann der Status wahlweise mit Note oder schriftlichem Kommentar seitens der Dozierenden abgegeben werden.
Quiz Die Fragen werden separat in einer Fragedatenbank erstellt, gesammelt und können anschließend für verschiedene Quiz genutzt werden.

z.B. Quiz in Moodle: Multiple-Choice-Fragen, Wahr-/Falsch-Fragen oder Kurzantwort-Fragen.

Eine kurze Einführung in die technische Umsetzung der Funktion „Test“ in Moodle finden Sie hier.

 

Feedback erfolgt im Quiz durch Bekanntgab e der richtigen bzw. falschen Antworten. Daran anknüpfend können Inhalte durch die Dozierenden noch weitergehend vertieft werden oder zusätzliche Lernmaterialien zur Verfügung gestellt werden.

Literaturhinweise zu formativem Prüfen

  • Black, P. & Wiliam, D. (1998): Inside the black box: Raising standards through classroom assessment. Phi Delta Kappan, 80 (2), S. 139-147.
  • Bundeszentrale für politische Bildung (2017): Formative Assessment: Bewerten um des Lernen Willen.
  • Cizek, G. J. (2010): An introduction to formative assessment: History, characteristics and challenges. In: Andrade, H. L. & Cizek, G. J. (Hrsg.): Handbook of formative assessment. New York, NY: Routledge, S. 3-17.
  • Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik: Zeitschrift für Pädagogik, 39 (2), S. 223-238.
  • Flechsig, K.-H. (1976): Prüfungen und Evaluation, Blickpunkt Hochschuldidaktik 40, S. 303-336.
  • Gibbs, G. (1999): Using assessment strategically to change the way students learn. In: Brown, S. & Glasner, A. (Hrsg.): Assessment Matters in Higher Education: Choosing and Using Diverse Approaches. Buckingham: SRHE and Open University Press, S. 41-53.
  • Hattie, J. (2009): Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. New York, NY: Routledge.
  • Hartung, S. (2017): Lernförderliches Feedback in der Online-Lehre gestalten. In: Griesehop, H. & Bauer, E. (Hrsg.): Lehren und Lernen online. Springer VS, Wiesbaden, S. 199-217.
  • Huber, L. & Reinmann, G. (2019): Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen. Springer VS, Wiesbaden.
  • Lehre Laden (o.J.): Ruhr Uni Bochum: https://dbs-lin.ruhr-uni-bochum.de/lehreladen/planung-durchfuehrung-kompetenzorientierter-lehre/formatives-pruefen/.
  • Lipnevich, A. A., & Smith, J. K. (2009): Effects of Differential Feedback on Students’ Examination Performance. Journal of Experimental Psychology, 15(4), S. 319-333.
  • Luft, J. & Ingham, H. (1955): The Johari window, a graphic model of interpersonal awareness. Proceedings of the western training laboratory in group development. UCLA, Los Angeles.
  • Michel, L. P., Goertz, L., Radomski, S., Fritsch, T. & Baschour, L. (2015): Digitales Prüfen und Bewerten im Hochschulbereich. Arbeitspapier Nr. 1. Berlin: mmb Institut für Medien- und Kompetenzforschung.
  • Müller, A. & Ditton, H. (2014): Feedback und Rückmeldungen: theoretische Grundlagen, empirische Befunde, praktische Anwendungsfelder. Waxmann, Münster, NY.
  • Narciss, S. (2006): Informatives tutorielles Feedback. Entwicklungs- und Evaluationsprinzipien auf der Basis instruktionspsychologischer Erkenntnisse. Reihe Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie, Band 56. Münster: Waxmann.
  • Schütze, B., Souvignier, E. & Hasselhorn, M. (2018): Stichwort - formatives Assessment. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21 (4), S. 697-715.
  • Wylie, E. C., Gullickson, A. R., Cummings, K. E., Egelson, P. E., Noakes, L. A. & Norman, K. M. (2012): Improving formative assessment practice to empower student learning. Thousand Oakes, CA: Corwin.