Dr. Simone Ohlemann forscht und unterrichtet in der Psychologie in den Bildungswissenschaften im FB 02. Im SoSe 2020 hat sie ihr Seminar "Normale und auffällige Lernprozesse" für Lehramtsstudierende im Team überarbeitet, digitalisiert und dann fast vollständig asynchron durchgeführt. Inhaltlicher Schwerpunkt sind diagnostische Fragestellungen, die das Lernen im Schulkontext beleuchten.
Als klar wurde, dass dieses Semester komplett digital ablaufen würde, was haben Sie persönlich zunächst als größtes Problem angesehen, was waren Ihre größten Bedenken?
„Da wir für diesen Kurs in der Vergangenheit schon die E-Learning-Plattformen Ilias bzw. den Reader nutzten, um den Studierenden Arbeitsaufträge sowie Lernmaterialien (Präsentationen, Literatur, Podcasts) zur Verfügung zu stellen, waren wir sehr zuversichtlich, dass wir mit einer entsprechenden Anpassung dieser Materialen unseren Studierenden auch im digitalen Semester eine qualitativ hochwertige Lehre unter besonderer Berücksichtigung der neuen Interaktions-Randbedingungen anbieten können.
Wir sahen weniger ein Problem darin, die Lernziele für diesen Kurs digital abzubilden. Unsere Bedenken bezogen sich eher darauf, dass die vielen „personalen“ Interaktionen mit den Studierenden wegfallen würden, in denen in einem Präsenzseminar ja umfangreich viel „passiert“.
Wir Lehrende können in diesen Interaktionen noch ergänzende Informationen und praktische Beispiele zu den Lernmaterialien geben und Fragestellungen im Plenum diskutieren. "Wir spüren in gesamtheitlicher Wahrnehmung, wo es noch hakt".
Studierende haben die Möglichkeit, direkt in gewohnter Interaktion (Mimik, Gestik usw.) Fragen zu stellen sowie aktiv vollumfänglich mitzudiskutieren. All das sind wesentliche Einflussfaktoren für die Beteiligung und Motivation der Studierenden. Die größte Herausforderung war es also, diese gewohnte Interaktion und diesen gewohnten Raum zur Diskussion in der Lehre bestmöglich digital abzubilden. Denn "alles" hatte sich geändert: Arbeitsmittel, Zeitabläufe, Transparenzen, Neben-Interaktionen, Pläusche usw. All das sollte fast vollständig in einen "Digital Twin" abgebildet werden.“
Wie sind Sie dem begegnet? Wie haben Sie Ihre Veranstaltungen digital gestaltet? Welche Medien, Methoden oder Tools haben Sie eingesetzt, um die Studierenden zum Lernziel zu begleiten?
„Für diesen Kurs haben wir das JGU-LMS verwendet. Teilweise mussten wir uns mit dem System überhaupt oder noch mehr vertraut machen, nicht alle von uns hatten schon damit umfassend gearbeitet.
Zunächst haben wir unsere Lernmaterialen angepasst. Diese müssen selbsterklärend sein und derart strukturiert präsentiert werden, dass die Studierenden einen roten Faden haben und sich nicht in einer intransparenten Anhäufung von Materialien und Informationen verlieren.
Diese dem neuen Medium geschuldete Anpassung war sehr viel Arbeit – aber die Evaluation zeigt, es hat sich mehr als gelohnt!
Die einzelnen Lerneinheiten haben wir bewusst unterschiedlich gestaltet, um die benötigte Abwechslung in das Seminar zu bringen. Dieses wurde von den Studierenden sehr gut aufgenommen. Jeder Studierende hat seine Wahrnehmungs- und Lern-Präferenzen, jeder wurde auf diese Weise in seiner Individualität "abgeholt": Der eine findet Lernlektionen mit einem kleinschrittig vorgegebenen
Lernpfad gut, der andere möchte lieber alle Informationen auf einen Blick. So war für jeden etwas dabei.
Die Bearbeitung der zur aktiven Teilnahme erforderlichen Arbeitsaufträge erfolgte fast nur in Kleingruppen, die zu Beginn des Semesters gebildet wurden und über das gesamte Semester bestehen blieben. Damit wollten wir die Zusammenarbeit und den Austausch der Studierenden untereinander fordern und fördern. Hierfür war das Tool zur Gruppenbildung in LMS sehr hilfreich, mit dem sich auch interessengeleitete Gruppen bilden lassen.
Das von uns zur Verfügung gestellte (textliche) Diskussionsforum wurde eher weniger genutzt, die Studierenden haben vornehmlich stark interaktiv über Microsoft Teams zusammengearbeitet.
Unsere Sorge war, dass eventuell Konflikte innerhalb der Gruppen entstehen könnten, weil sich nicht alle Gruppenmitglieder gleichermaßen engagieren. Diese Sorge war im Nachhinein glücklicherweise unnötig. Die Evaluation ist noch nicht ganz abgeschlossen, doch schon jetzt zeichnet sich deutlich ab, dass die Studierenden Ihren Lernertrag durch die Gruppenarbeit höher einschätzen, als wenn sie allein gelernt hätten.
Ein weiteres Tool, das wir eingesetzt haben, war das Lern-Quiz. In jeder Lerneinheit hatten die Studierenden die Möglichkeit, anhand von Multiple-Choice Fragen das Erreichen der Lernziele in Form einer Selbstkontrolle zu überprüfen. Die Evaluation zeigt, dass das Lern-Quiz ein sehr wichtiges und beliebtes Tool für die Studierenden war, je mehr Fragen, desto besser.
Zudem haben wir den Studierenden in Form einer Checkliste Feedback zu den eingereichten Gruppenaufgaben gegeben.
Das gesamte Seminar fand in einem asynchronen Format statt, so konnten die Studierenden selbst entscheiden, wann Sie sich mit den Lernmaterialen befassen und die Gruppenarbeiten durchführen. Für die Bearbeitung einer Lerneinheit stand dem Kurs jeweils eine Woche zur Verfügung. Dieses asynchrone Format bedeutete dann für die Lehrenden "aber" auch eine hohe Flexibilität und "Einsatzbereitschaft" für die sehr zeitnahe Beantwortung aufkommender individualer Fragen, Rückkopplungen usw.“
Was haben Sie persönlich für Ihre Lehrtätigkeit mitgenommen? Welche Chance sehen Sie im nachhaltigen Einsatz von digitaler Lehre, z. B. für Studierende oder die Universität?
„Unsere Entscheidung, diesen Kurs in asynchroner Form anzubieten, war uneingeschränkt richtig.
Dieses ist noch besonders wichtig: Um die Gefahr und Furcht vor der "digitalen Anonymität" überhaupt erst gar nicht aufkommen zu lassen, werde ich im nächsten Semester sofort zu Beginn des Kurses mit jeder Kleingruppe in einem ausreichend angemessenen Zeitrahmen eine Videokonferenz durchführen, in der sich jeder im Vorhinein einmal gesehen, gesprochen, kennengelernt und damit ein Gesicht zu einem Namen hat.
Auch in diesem Semester habe ich dieses schon umgesetzt, allerdings erst "on-the-fly" während des Semesters. Sich mit jedem Studierenden einmal (wenn auch nur kurz) ausgetauscht zu haben, hat dieses Gefühl der Anonymität ein großes Stück weit reduziert.
Die Evaluation zeigt, dass Studierende besonders in der digitalen Lernwelt Transparenz (was kommt auf sie zu, was wird wie wann von ihnen erwartet) und eine gut strukturierte Präsentation der Lernmaterialen benötigen, um gut arbeiten zu können.
Ich habe den Eindruck, dass die Studierenden in diesem Semester intensiver und mehr gelernt haben als in der Präsenzveranstaltung (was von Studierenden nicht-repräsentativ erhoben bestätigt wurde).
Sitzen Studierende im Seminarraum, beteiligen sich manche von ihnen mehr an Diskussionen, andere weniger. In diesem Semester aber waren auch die eher „ruhigeren“ Studierenden "durch den Fluss der Dinge" angeregt, sich mit den gestellten Aufgaben intensiv zu befassen und sich in die Gruppenarbeit einzubringen.
Im Rückblick wird deutlich, dass manche Dinge in der digitalen Lehre besser funktionierten als in der Präsenzlehre – und umgekehrt.
Für die zukünftige Lehre sollte es also eine entsprechende Kombination aus digitaler Lehre und Präsenzlehre geben. Unsere Unterrichtsmaterialen, die wir für das rein digitale Semester erarbeitet haben, sind qualitativ hochwertiger als die Materialien für die Präsenzlehre.
Sie sind selbsterklärend, enthalten ausreichend praktische Beispiele und Reflexionsaufgaben und sind darauf ausgerichtet, die Lernenden Schritt für Schritt durch die Lerninhalte zu führen.
Setzen wir diese Lernmaterialen nun auch in der Präsenzlehre ein, bleibt uns in den Präsenzzeiten wesentlich mehr Zeit für weitere praktische Übungen und Diskussionen, um die zuvor gelernten Inhalte zu vertiefen.“
Welche Herausforderungen sehen Sie zum jetzigen Zeitpunkt für einen nachhaltigen Einsatz von digitaler Lehre im nächsten Semester und in der Zukunft? Was ist nötig, um diese erfolgreich zu bewältigen?
„Für eine erfolgreiche digitale Lehre braucht es ein adäquates "Vermittlungs-Konzept" sowie adäquate digitale Technologien und Verfahren zur bestmöglichen Umsetzung genau dieses Vermittlungs-, dieses Lehr-, dieses Lernkonzeptes.
Für eine nachhaltige Weiterentwicklung der digitalen Lehre als Teil und Form der zukünftigen Lehre ist ein reger Austausch zu Best-Practice-Beispielen innerhalb der Fachbereiche notwendig.
Bezüglich der digitalen Technologien hat sich schon sehr viel getan. Die Unterstützung mit den uns zur Verfügung gestellten Videos und Anleitungen war beeindruckend und sehr hilfreich. Leider ist nach wie vor die von der Universität zur Verfügung gestellte Server-Infrastruktur zu oft derart belastet, dass wir mit sehr langen Hochlade- und Speicherzeiten in z. B. JGU-LMS "zu kämpfen haben". Auch eine stabilere Verbindung in Videokonferenzen (Microsoft Teams) ist notwendig.
Laut Rückmeldung der Studierenden wäre zudem eine Vereinheitlichung der digitalen Infrastruktur hilfreich, damit sie sich nicht bei jedem Lehrenden immer wieder auf neue digitale Technologien (z. B. Lernplattformen, Kommunikationskanäle) einstellen müssen.
Ein Punkt, der mich als Lehrperson mit einer starken Ausprägung für individuale Lehr- und Lernleistungen immer wieder "berührt", ist die Tatsache, dass den Studierenden nicht umfangreicher Feedback auf ihre eingereichten Arbeitsleistungen gegeben werden kann, da dieses "manuell"
einfach zeitmäßig nicht zu bewältigen ist. Allerdings ließe sich dieses Problem mit Hilfe von Algorithmen (KI, maschinelles Lernen) deutlich reduzieren.
Ich wünsche mir sehr, dass die Universität auch in den Bereichen KI (künstl. Intelligenz), ML (maschinelles Lernen), IoT (Internet of Things) in der Lehre noch mehr wissenschaftliche Leuchttürme setzt und unterstützt zu setzen und konkrete Anwendungen vorantreibt, so dass die digitale Lehre der Zukunft durch KI-basierte Lösungen unterstützt und noch effektiver und effizienter gestaltet werden kann.“